Forderungen (Archiv)

FORDERUNGEN

demoUnsere Forderungen basieren auf ein Positions- und Forderungspapier aus dem Jahre 2005, welches von der AG des Projekts 1-0-1 [one ’o one] intersex in Zusammenarbeit mit Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats des Transgender-Netzwerks erstellt wurde. Die derzeitige Version wurde von IVIM-Mitgliedern 2008 und 2009 überarbeitet und erweitert.

Intergeschlechtlichkeit ist kein medizinisches Problem, sondern ein gesellschaftlich-politisches Thema. Nicht die intergeschlechtlichen Menschen (und ihre Körper) sind das Problem, sondern die medizinisch-psychologische Praxis, bestimmte Menschen als geschlechtlich „fehlgebildet“ darzustellen (und unter dem Begriff „Störungen der Geschlechtsentwicklung“, kurz: „DSD“, zusammen zu fassen), um dann chirurgisch, medikamentös und psychisch Normkörper und -identitäten herzustellen. Das Ziel der neuen Terminologie DSD ist es, immer mehr Intersexvariationen auf genetischer Ebene nachzuweisen um dafür die Legitimation eines Behandlungsbedarfes zu rechtfertigen. So kann im Rahmen einer humangenetischen Beratung für werdende Eltern auch eine Empfehlung zum Schwangerschaftsabbruch, einer pränatalen Behandlung oder der Rat auf den Verzicht einer Schwangerschaft gegeben werden.
Intergeschlechtlichkeit muss entpathologisiert werden und die derzeitige Definitions- und Entscheidungsmacht der Medizin muss eingegrenzt werden auf die ‚rein‘ medizinischen Probleme. Intergeschlechtliche Menschen müssen als die eigentlichen Expert_Innen (‚Expert_Innen in eigener Sache‘) gestärkt werden.

Dies ist unsere Forderungsliste:

1. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit



2. Das Recht auf Schutz vor medizinischer und/oder psychologischer Misshandlung, Bevormundung und Zwang

3. Das Recht auf ein höchstmögliches Maß an Gesundheit

  • Ärzt_innen und Eltern müssen sich ihrer eigenen, normativ geprägten Sichtweise bewusst werden und kritisch reflektieren, was tatsächliche gesundheitliche Bedürfnisse des Kindes und was eigene Wünsche und geschlechtsnormierende Maßnahmen sind.

 



4. Das Recht, dass medizinische, psychologische oder medikamentöse Eingriffe, die nicht lebensnotwendig sind, nur durchgeführt werden, wenn dazu auf der Grundlage einer umfassenden Aufklärung eine Einwilligung der betreffenden Person vorliegt.

  • Wir fordern die Praxis einer umfassend informierten Einwilligung (informed consent) wenn es um die Entscheidungsfindung von Patienten über medizinische (chirurgische oder medikamentöse) Eingriffe geht.
    Dabei sollten medizinische Intervention nur im Falle ernster gesundheitlicher Probleme geschehen, hierzu gehört allerdings nicht die „Korrektur“ intersexueller Genitalien oder andere ‚“normalisiserenden“ Eingriffe.
    Von rein kosmetischen medizinischen Eingriffen (besonders im Kindesalter) ist Abstand zu nehmen. Solche Eingriffe dürfen nur nach einer umfassend informierten Einwilligung (informed consent) der betroffenen Person selbst erfolgen.
  • Kosmetische Eingriffe ohne Einwilligung der Betroffenen verletzen grundlegende Menschenrechte (Schutz der körperlichen Integrität, Selbstbestimmungsrecht). Daher muss das Recht der Eltern auf stellvertretende Einwilligung zu kosmetischen Eingriffen, die der Normierung des geschlechtlichen Erscheinungsbilds dienen, rechtlich eingeschränkt werden.

 

5. Das Recht auf körperliche Selbstbestimmung und die freie Entwicklung und Entfaltung der eigenen geschlechtlichen Identität ohne Bevormundung und Zwang

  • 
Intergeschlechtliche Kinder sollten altersentsprechend über ihre Besonderheiten aufgeklärt werden und sollten wie jedes Kind in einer liebe- und verständnisvollen Umgebung aufwachsen können. Eltern sollten versuchen, eine zwanghafte geschlechtstypische Erziehung zu vermeiden. Sie sollten auf die tatsächlichen gesundheitlichen Bedürfnisse ihrer Kinder achten und diese von geschlechtsnormierenden Maßnahmen und Wünschen unterscheiden können . Da bei jedem Kind die Möglichkeit besteht, dass es sich nicht als männlich oder weiblich identifiziert, oder sich ein bisheriges geschlechtliches Zugehörigkeitsempfinden später wieder ändern kann, so sollte dies akzeptiert und das Kind in seiner Persönlichkeitsentwicklung unterstützt werden. Eltern sollten die Möglichkeit erhalten sich mit anderen betroffenen Eltern auszutauschen, dazu gibt es bereits selbstorganisierte Elterngruppen. Ergänzend schlagen wir Patenschaften durch erwachsene intergeschlechtliche Menschen vor, die mit ihren Lebenserfahrungen eine weitere Hilfe und Vorbildsfunktion erfüllen können: hierzu gibt es schon erfolgreiche Beispiele aus der Praxis.
  • Wir fordern die Streichung der amtlichen Geschlechtsregistrierung von Neugeborenen und die Zulassung geschlechtsneutraler Vornamen. Die Änderungen von Personenstand und Vornamen müssen unbürokratischer als bisher ablaufen.
  • Wir fordern die Abschaffung des Geschlechteintrages im Personenstand.
    Alternativ zur Abschaffung des Geschlechtseintrages wäre bei einer Einführung eines optionalen weiteren Geschlechtseintrages für Menschen, die eine Option neben „weiblich“/“männlich“ fordern, folgendes unabdingbar: Bei einem optionalen Alternativeintrag für das Geschlecht muss es dem Menschen freistehen, diesen Eintrag freiwillig zu wählen, ohne autoritäre Einmischung durch rechtliche, medizinische oder ähnliche Instanzen. Die über den Personenstand geregelten Einschränkungen (Ehe, Wehrdienst, Arbeit unter Tage) müssten im Detail diskutiert werden. Die Option eines weiteren/zusätzlichen Geschlechtseintrages muss allen Menschen offen stehen.

 

6. Anstelle weiterer Forschungsvorhaben, die geschlechtsnormierende wissenschaftliche Sichtweisen und Behandlungsmaßnahmen befördern, sollte der Aufbau von Forschungs- und Beratungsstellen, von Initiativen und Selbsthilfeorganisationen intergeschlechtlicher Menschen und ihrer Angehörigen finanziell unterstützt werden, die gesellschaftliche Aufklärung leisten und ein entpathologisierendes Verständnis von Intergeschlechtlichkeit fördern.

  • Wir fordern, dass Medizin und Psychologie endlich kritisch reflektieren, wie sie selbst an der Herstellung und Reproduktion von geschlechtlicher „Norm“ und „pathologischer Abweichung“ in besondere Weise mitwirken.
  • Es bedarf der Unterstützung und Förderung von Anlaufstellen und Selbsthilfegruppen für intergeschlechtliche Menschen und deren Eltern, insbesondere bei deren Einrichtung, Vernetzung und Arbeit.
  • Wir fordern eine auf dem Prinzip der Entpathologisierung und Entdramatisierung beruhende Sensibilisierung und Aufklärung der Öffentlichkeit, speziell von GynäkologInnen, Schwangeren- bzw. Familienberatungsstellen und GeburtshelferInnen, damit diese (werdende) Eltern entsprechend den genannten Leitinien beraten und begleiten können.
  • Akzeptanz geschlechtlicher Vielfalt muss verstärkt gefördert werden. Aufklärung, die Intergeschlechtlichkeit nicht als pathologische Erscheinung darstellt, ist zu fördern für Schulen o.ä. (z.B. über die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung).
Lesen Sie auch unseren Input zur Anhörung im Deutschen Ethikrat 2011 und unsere Pressemitteilung zur Stellungnahme des Deutschen Ethikrates im Februar 2012

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