Gemeinsamer Kommentar zu einer Entscheidung des deutschen Familiengerichts, das einen Eingriff an einer minderjährigen intergeschlechtlichen Person genehmigt

Einführung

In einer kürzlich ergangenen Entscheidung vom 6. März 2024 befasste sich ein deutsches Familiengericht aus Baden-Württemberg mit einem Fall, der von den Eltern einer intergeschlechtlichen minderjährigen Person vorgebracht wurde. Bei dem Kind wurde eine Form von AGS[1] diagnostiziert, und die Eltern beantragten eine Genehmigung zur Einwilligung in einen Eingriff zur Veränderung der Geschlechtsmerkmale des Minderjährigen. In Deutschland gibt es ein Gesetz, das intergeschlechtliche Genitalverstümmelungen verbietet. Allerdings lässt das Gesetz Möglichkeiten des Missbrauchs offen, weshalb wir diesen Fall für ein Musterbeispiel halten, wie dieses Missbrauchsrisiko in Erscheinung treten kann.

Das Gericht gab dem Antrag statt und stützte sich dabei auf den Bericht einer interdisziplinären Kommission. In diesem wird unter anderem argumentiert, dass der Eingriff aufgrund der Tatsache, dass das Kind mit einem “Sinus urogenitalis”[2] geboren wurde, dem „besten Interesse des Kindes“ entspreche.

Die folgende Analyse stützt sich auf das öffentlich zugängliche Material, nämlich die Entscheidung des Familiengerichts[3] und den Text des Gesetzes „zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ (19/27929)[4], einschließlich seiner Begründung. Wir räumen ein, dass wir keinen Zugang zu der Stellungnahme der interdisziplinären Kommission hatten, die zur Vervollständigung dieser Analyse hätte beitragen können.

Jede Aussage medizinischer Art, die sich aus dem vorliegenden Fall ergibt und in der folgenden Analyse enthalten ist, stützt sich auf den Beitrag eines erfahrenen Mediziners, der einen menschenrechtsbasierten Ansatz bei der Behandlung intergeschlechtlicher Menschen verfolgt.

Der erste Teil der Analyse konzentriert sich auf die Darstellung der Bestimmungen des deutschen Verbots der Genitalverstümmelung von intergeschlechtlichen Menschen und wie sie sich auf den vorliegenden Fall beziehen. Im zweiten Teil werden die Argumente und Begründungen des Gerichts analysiert, die zur Genehmigung von chirurgischen Eingriffen an einem intergeschlechtlichen Kind führen. Im Ergebnis stellen wir fest, dass das Gericht das Gesetz nicht korrekt umgesetzt hat, indem es kosmetische Eingriffe, die über das Erlaubte (Verringerung oder Beseitigung eines Gesundheitsrisikos) hinausgehen, faktisch zugelassen hat, obwohl solche kosmetischen Eingriffe gesetzlich verboten sind. Insbesondere warnen wir davor, dass das Gericht sein Mandat überschreitet und die Gefahr besteht, dass die Familiengerichte intergeschlechtlichen Kindern das Recht auf körperliche Autonomie und Selbstbestimmung ihrer Geschlechtsidentität nehmen, indem sie ein Geschlecht für das betreffende Kind festlegen und dies zur Rechtfertigung chirurgischer Eingriffe an den Geschlechtsmerkmalen des Kindes verwenden.


[1] AGS bezieht sich auf das adrenogenitale Syndrom (AGS), eine intergeschlechtliche Variation, die die Nebennieren betrifft, ein Paar walnussgroße Organe oberhalb der Nieren. Nebennieren produzieren wichtige Hormone, darunter Cortisol, das die Reaktion des Körpers auf Krankheit oder Stress reguliert.

[2] Der „Sinus urogenitalis“ bezieht sich auf die Harnröhre und die Vagina, die in einem gemeinsamen Kanal verbunden sind.

[3] Hier erhältlich: https://www.landesrecht-bw.de/bsbw/document/NJRE001567840

[4] Hier erhältlich: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/279/1927929.pdf 

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