Hissen der Inter*-Flagge in Berlin, Rathaus Schöneberg, am 25.10.19 durch Justizsenator Dirk Behrendt und Bezirksbürgermeisterin Angelika Schöttler anlässlich des Intersex Awareness Day am 26.10.19
Grußwort OII Deutschland, von Ulrike Klöppel
Sehr geehrte intergeschlechtliche Menschen, liebe intersexuelle Menschen, liebe Inter*, dear Herms, und, der Einfachheit halber, sehr geehrte restliche Menschen!
Liebe Frauen, liebe Männer – diskriminierende Erfahrungen umzudrehen, mag pädagogisch wenig subtil sein, aber unsichtbar gemacht zu werden, ist nun mal nach wie vor das Hauptproblem intergeschlechtlicher Menschen. Die Vorherrschaft des Zweigeschlechtersystems zeigt sich nicht nur bezüglich der Anrede. Sie zeigt sich auch beim Beantragen eines Kitagutscheins, bei der Krankenkassenanmeldung, beim Eröffnen eines Bankkontos, bei den Umkleide- und Duschräumen in Sportstätten und allgemein in der Tabuisierung von Intergeschlechtlichkeit. Am gewaltvollsten offenbart sie sich jedoch in der chirurgischen und hormonellen Anpassung intergeschlechtlicher Menschen an die Zweigeschlechternorm, die ohne Einwilligung der Betroffenen durchgeführt wird. Das trifft insbesondere Kinder und Jugendliche. Diese Praxis ist nicht etwa veraltet, wie das immer mal wieder in den Medien behauptet wird. Vielmehr zeigt eine Auswertung der fallpauschalenbezogenen Krankenhausstatistik des Bundes für den Zeitraum bis 2016, dass sogenannte feminisierende und maskulinisierende Genitaloperationen an Kindern unter 10 Jahren weiterhin durchgeführt werden. Das Verbot dieser Eingriffe fordern Inter*-Aktivist*innen bereits seit 23 Jahren – doch die Große Koalition hat es trotz gegenteiliger Versprechungen noch immer nicht umgesetzt.
Vor 23 Jahren, am 26. Oktober 1996, fand die erste öffentliche Demonstration intergeschlechtlicher Menschen gegen die medizinische Behandlungspraxis in den USA, in Boston, statt. In Deutschland gründete sich im selben Jahr die „Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie“ (AGGPG). Zwei Jahre später kam es auch in Berlin zu ersten Demonstrationen gegen uneingewilligte chirurgische und hormonelle Geschlechtsnormierungen. Dass in Berlin in Solidarität mit den Anliegen intergeschlechtlicher Menschen nun zum ersten Mal die Inter*-Flagge vorm Schöneberger Rathaus gehisst wird, begrüße ich als Beirat der deutschen Sektion der Organisation Intersex International sehr. Ich darf auch die besten Grüße des dreiköpfigen Vorstands ausrichten, der in Prag bei der ILGA Europe-Konferenz ist, um die europäische Vernetzung intergeschlechtlicher Menschen und ihrer Unterstützer*innen voranzutreiben. Ein Erfolg dieser Arbeit ist, dass in diesem Jahr das Europäische Parlament in einer Resolution zu den Rechten intergeschlechtlicher Menschen deutlich die Entpathologisierung und den Schutz von Inter* in den europäischen Staaten gefordert hat.
Wir nehmen das Hissen der Inter*-Flagge in Berlin als Versprechen, dass das Land Berlin im Bundesrat alles tun wird, damit ein umfassendes Verbot uneingewilligter geschlechtsnormierender Eingriffe schnellstmöglich in die Wege geleitet wird – und zwar ein Verbot, das diesen Namen auch verdient und nicht tausend Schlupflöcher lässt. Wir fordern den Berliner Senat des Weiteren dazu auf, sich dafür einzusetzen, die Selbstbestimmung des Geschlechtseintrags für alle Menschen zu ermöglichen, und verwaltungstechnische Hindernisse auf allen Ebenen im Land Berlin abzubauen. Außerdem soll sich das Land Berlin für Entschädigungen für vergangene Menschenrechtsverletzungen an intergeschlechtlichen Menschen einsetzen! Auf Landesebene sind ferner die peer-Beratungsstrukturen und Empowermentangebote für intergeschlechtliche Menschen weiter auszubauen. Wir fordern, dass der Antidiskriminierungsschutz wirksam umgesetzt wird. Es müssen Fortbildungen für das Gesundheits- und Pflegewesen gefördert werden, die Curricula in der Schule und in Ausbildungen im Gesundheits- und Pflegewesen müssen verändert werden.
Das Hissen der Inter*-Flagge ist ein Versprechen. Ein Versprechen für eine umfassende Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen in Berlin, in Deutschland und überall auf der Welt – ich hoffe, die Politik wird es einlösen!