Seit bereits Juli 2014 gibt es ein neues wichtiges und finanziertes (!) Peer-Beratungs-Angebot in Berlin! Mit der „Inter &Trans* Beratung“ des Projektes QUEER LEBEN gibt es nun ein in Deutschland bisher einzigartiges Angebot für Inter*Menschen. Hier die einführenden Worte von Ev Blaine Matthigack von IVIM/OII-Germany, die_der die Inter*-Peer-Beratungsstelle ausfüllt:
Ansprache von Ev Blaine Matthigack (OII-Germany) anläßlich der Eröffnungsfeier „Inter &Trans* Beratung“ des Projektes QUEER LEBEN
Sehr geehrte Gäste und Kolleg_innen unserer Eröffnungsfeier, ich freue mich, dass ich die Gelegenheit habe einige Worte an Sie und Euch zu richten. Ich bin selbst intergeschlechtlich und in Funktion als Peer Berater_in für intergeschlechtliche Menschen und ihre Angehörigen täglich in einem medizinunabhängigen Angebot in unseren Räumen von QUEER LEBEN und TrIQ ansprechbar.
Dieser Satz, der mir so einfach über die Lippen kommt ist keine Selbstverständlichkeit.
Denn seit 1993 fordern intergeschlechtliche Menschen das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und körperliche Unversehrtheit ein. Die Proteste, die angefangen wurden von der „Intersex Society of North America“ unter dem Motto „Hermaphrodites With Attitude“ weiteten sich weltweit aus, nicht zuletzt durch die Möglichkeiten , die das World Wide Web bot.
In Deutschland gründete Michel Reiter 1996 zusammen mit Heike Bödeker die Arbeitsgemeinschaft gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie (AGGPG), 2004 folgte die Gründung des Vereines Intersexuelle Menschen e.V. und 2007 in der Schweiz mit Beginn des sogenannten „Zwitterprozesses“ um Christiane Völling schliesslich Zwischengeschlecht.info.
2003 rief Curtis Hinkle die Organisation Intersex International (OII) mit Sitz in Quebec ins Leben, deren Deutschen Ableger Ins A Kromminga und ich 2008 gegründet haben. OII ist ein weltweites Netzwerk. Unsere Mitglieder leisten Aufklärungs- und Menschenrechtsarbeit für Inter* in 14 Ländern, auf sechs Kontinenten: in Asien, Afrika, Australien, Europa, Nord-und Südamerika. Unsere Mitglieder repräsentieren nahezu alle bekannten Variationen von Intergeschlechtlichkeit.
Für uns ist Intergeschlechtlichkeit keine Störung oder Krankheit, inter* Menschen sind für uns selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaft.
Intergeschlechtlichkeit ist ein Begriff, der eine Vielfalt von körperlichen Variationen überschreibt, oft bleibt der Begriff zunächst abstrakt und leer als Worthülse stehen.
Wenn Sie das Wort googeln finden sich zuhauf medizinische Definitionen, ich möchte diesen Begriff nun mit einigen Bildern von Menschen füllen.
Ich möchte Ihnen Das Projekt „Visibly Intersex“ von Del La Grace Volcano zeigen. Hier sehen sie Inter* Menschen aus aller Welt, die sich für Sichtbarkeit und Akzeptanz von Inter* einsetzten und sich emanzipiert haben von einer Pathologisierung ihrer Körper.
[POWER POINT PRÄSENTATION „VISIBLY INTERSEX“] (siehe Foto)
Wie sieht es nun in Berlin aus?
Berlin hat ca. 3,5 Millionen Einwohner_innen. Es gibt je nachdem welche Variation zu Inter* hinzugezählt wird ca. 2.000 oder 60.000 intergeschlechtliche Menschen in Berlin.
In Deutschland wurden 2013 682.100 Lebendgeburten gezählt, das bedeutet dass eine Zahl von mindestens 341 bis zu 11.600 Neugeborenen inter* Kinder das Licht der Welt erblickt haben.
Doch jenseits der Zahlen, die nicht gesichert und spekulativ bleiben sind, sind Lebensrealitäten von Inter* eine Tatsache. Aber was heißt es eigentlich intergeschlechtlich zu sein?
Inter* zu sein bedeutet das gesellschaftliche Konzept von Männlichkeit und Weiblichkeit ad absurdum zu führen.
Intergeschlechtlich zu sein heißt mit einem Körper zu leben, der bisher als missgebildet und deformiert von der Medizin angesehen wurde, als uneindeutig mit einer sogenannten Störung der Geschlechtsentwicklung, die fixiert werden muss.
Inter*zu sein heißt sich damit auseinander zu setzen, dass die eigene Diagnose im Rahmen von Präimplantationsdiagnostik in anderen Teilen Europas als Abtreibungsgrund eingetragen ist. Das heißt sich damit auseinander zu setzten, dass intergeschlechtliches Leben als nicht lebenswert angesehen wird.
Intergeschlechtlich zu sein heißt mit einer Sprache des Defizitären aufzuwachsen und jede Sekunde des Lebens die Folgen zu tragen von Entscheidungen, die andere getroffen haben.
Inter*zu sein, heißt auch oft, nicht zu wissen was mit dem eigenen Körper tatsächlich los ist, heißt auf allgegenwärtiges Schweigen und Tabus zu stoßen.
Sich als inter* zu outen, bedeutet darauf angewiesen zu sein was das Gegenüber aus dieser Information macht, es bedeutet sich gut zu überlegen, was man wem wie mitteilt.
Inter*zu sein, heißt auch, sich immer wieder outen oder erklären zu müssen, beim Arzt, in Patner_innschaften, im Freund_innenkreis und letztlich auch im Alter, wenn die eigenen Kräfte vielleicht nicht mehr reichen und Pflegepersonal informiert und einbezogen werden muss. Und zwar unabhängig davon, ob Normierungen stattgefunden haben oder nicht. Denn entweder müssen die Narben und Eingriffe erklärt werden, im dem Falle, dass eine Inter* Person unbehandelt bleibt, sieht sie sich vor die Herausforderung gestellt ihre „andere“ Körperlichkeit erneut erklären zu müssen.
Es gilt also viele Hürden zu nehmen – Schweigen, Tabuisierung, Stigmatisierung, Falsch-oder Fehlinformation.
Doch seit einigen Jahren trägt die Arbeit der Interbewegung erste Früchte:
2012 empfiehlt der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme “Zur Lebenssituation Intergeschlechtlicher“, dass „sowohl in einem qualifizierten interdisziplinären Kompetenzzentrum als auch in einer Betreuungstelle das Angebot einer Beratung der Betroffenen und ihrer Eltern durch andere Betroffene und ihren Eltern“ durch Peer Beratung sichergestellt werden sollte.
2013 fordert die Resolution 1952 des Europarates „Children’s right to physical intergrity die Europäischen Mitgliedstaaten auf „… die körperliche Unversehrtheit, Autonomie und Selbstbestimmung der betroffenen Person zu garantieren; und Familien mit intergeschlechtlichen Kindern mit angemesser Beratung und Unterstützung zu versorgen“.
Hier sind wir nun angekommen und Sie haben einen kleinen Eindruck von den Herausforderungen und Lebensrealitäten bekommen, denen Inter* Menschen sich gegenüber gestellt sehen und warum mein Eingangssatz keine Selbstverständlichkeit ist.
Der Weg zu einem selbstbestimmten Leben als Inter* führt über den Weg der Selbstakzeptanz, kein einfacher Weg, wenn der Urspungskörper ohne informierte Einwilligung modifiziert wurde; auch kein einfacher Weg mit einem unbehandelten Körper, denn in der Öffentlichkeit sind Inter* immer noch kaum sichtbar und der Glaube an die Naturgegebenheit von nur zwei Geschlechtern mit ihren entsprechenden Körpernormen ist tief im kulturellen Gedächtnis verankert. Hier braucht es weiterhin Aufklärung und Akzeptanz.
Ich möchte mich bei allen bedanken, die dieses Projekt ermöglicht haben, insbesondere bei der Stiftung Deutsche Klassenlotterie für diesen Sechser mit Superzahl, und unsern Trägern Trialog e.V. (den Profis für Kinder, Jugendliche und Familien und deren Unterstützung) und der Schwulenberatung Berlin (mit ihren Profis gegen Diskriminierung von LGBTIQ Menschen und deren Unterstützung).
Sie setzen ein Zeichen für Akzeptanz und Sichtbarkeit von Intergeschlechtlichen.
Mit Ihrer aller Unterstützung wurde seit Juli ein Ort ins Leben gerufen, der für Inter* und alle, für die dies ein Thema ist, offen steht, der die Möglichkeit bietet Inter*Anliegen – Anliegen zu Inter* individuell und mit Zeit anschauen zu können.
Das ist kostbar! Ich hoffe, es werden mehr Peer Beratungsstellen folgen, denn ich denke sie werden gebraucht. Enden möchte ich mit einem Satz von Herrmann Hesse: „Nun, wo ein Anfang gemacht ist kommt das Beste von selber nach!“
Vielen Dank!