Von IVIM-OII Germany Beiratsmitglied Ulrike Klöppel.
Bedeutet der Bundesverfassungsgerichtsbeschluss vom 10. Oktober 2017 (1 BvR 2019/16) zur Zulassung eines weiteren positiven Geschlechtseintrags auch das Ende uneingewilligter kosmetischer Genitaloperationen im Kindesalter?
Noch 2004 empfahl die Deutsche Gesellschaft für Urologie bei „Störungen der sexuellen Differenzierung“ eine funktionelle und „kosmetische Korrektur“ eines „uneindeutigen“ Genitales vor dem zweiten Lebensjahr (AWMF-Leitlinie Nr. 043/029). Diese medizinische Leitlinie stellte erneut einen Schlag ins Gesicht für Organisationen intergeschlechtlicher Menschen dar, die seit Jahren auf gravierende Probleme wie bleibende Narben, Verwachsungen, Sensibilitätsverlust, Schmerzen, Traumatisierung, wiederholte Operationen, Probleme von Hormonbehandlungen etc. hingewiesen hatten. Die Kritik, die in den 1990er Jahren z.B. von der Intersex Society of North America oder der Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Gynäkologie und Pädiatrie geübt wurde, ist auch heute noch aktuell: Medizinisch nicht notwendige Genitaloperationen und Sexualhormonbehandlungen an nicht-einwilligungsfähigen Kindern sind gravierende Menschenrechtsverletzungen (ausführlich dazu Intersexuelle Menschen e.V., die Organisation Intersex International / Deutschland sowie die Schweizer Vereinigung zwischengeschlecht.org). Unterstützung erhielten und erhalten die Organisationen vor allem durch kritische Medienberichte, queer-feministische Geschlechterforscher*innen und Jurist*innen (Stichwortsuche „intersex“ + „intergeschlechtlich“ im Meta-Katalog i.d.a.).
Neue Leitlinien, träge Praxis
2009 (und erneut 2017) nahm der UN-Ausschuss zur Überwachung des internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) die Kritik auf und rügte die Untätigkeit der Bundesregierung. Daraufhin beauftragte die Bundesregierung den Deutschen Ethikrat, einen Dialog mit intergeschlechtlichen Menschen zu organisieren. In seiner 2012 veröffentlichten Stellungnahme mahnte der Ethikrat äußerste Zurückhaltung bei Genitalplastiken im Kindesalter an. Vor dem Hintergrund solcher Kritik begannen die medizinischen Fachgesellschaften schließlich doch damit, die internationalen (erstmals 2005) und nationalen (erstmals 2007/2010) medizinischen Behandlungsleitlinien schrittweise zu überarbeiten und rein kosmetische Genitaloperationen zu problematisieren. Die Umsetzung in der Praxis hinkt jedoch hinterher: Zumindest bis ins Jahr 2014 hinein konnte in Deutschland von einem Rückgang medizinisch nicht notwendiger Genitaloperationen an unter zehn Jahre alten Kindern keine Rede sein.
Im Sommer 2016 hat eine Kommission mehrerer deutscher Fachgesellschaften eine grundlegend neue medizinische Leitlinie mit dem Titel „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ veröffentlicht. Diese dringt auf eine „Revision des tradierten normativen Menschbildes von Frau und Mann“. Medizinisch-psychologische Behandlung und Begleitung, heißt es in der Leitlinie, sollten nicht auf „ein eindeutiges männliches oder weibliches Geschlecht“ abstellen, weshalb Indikationen für Genitalplastiken am nicht-einwilligungsfähigen Kind nur restriktiv gestellt werden dürften. Ziel müsse vielmehr sein, für Betroffene „eine möglichst gute Lebensqualität und Akzeptanz ihres Körpers zu erreichen“. Die Leitlinienautor*innen intendieren eine fundamentale Abkehr von einem dichotomen Geschlechterverständnis zugunsten eines „Integral von Weiblich- und Männlichkeit“.
Vielversprechend klingt die neue Leitlinie, aber wer kontrolliert ihre Umsetzung? Leitlinien sind lediglich Entscheidungshilfen für Ärzt*innen, keine rechtlich verbindlichen Regelungen. In der Praxis besteht Interpretationsspielraum: So hat etwa ein Kinderchirurg des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein im Juni 2017 gegenüber einer Journalistin erklärt, weiterhin medizinisch nicht notwendige Genitaloperationen an Kindern durchzuführen, wenn die Eltern sich nicht im Stande fühlten, ihr Kind ohne die kosmetische Anpassung anzunehmen. In Anbetracht der gleichbleibenden Zahl der Eingriffe an intergeschlechtlichen Kindern hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 21. September 2017, d.h. zum Ende der letzten Legislaturperiode, in einem – von anderen Ministerien allerdings nicht mitgetragenen – in einem Positionspapier gefordert, dass das „existierende standesrechtliche Operationsverbot durch eine klarstellende Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB)“ ergänzt werden müsse.
Wie sich der BVerfG-Beschluss auswirkt
Bedeutet der Bundesverfassungsgerichtsbeschluss vom 10. Oktober 2017 (1 BvR 2019/16) zur Zulassung eines weiteren positiven Geschlechtseintrags auch das Ende uneingewilligter kosmetischer Genitaloperationen im Kindesalter? Historisch hat sich die Medizin als durchsetzungsfähig und zugleich flexibel genug erwiesen, um sich wissenschaftlich und praktisch immer wieder als Gatekeeper der Geschlechterordnung zu legitimieren.
Durch den bahnbrechenden Beschluss des BVerfG wird erneut bekräftigt, was auch durch die gesetzliche Einführung des Offenlassens des Geschlechtseintrags am 7. Mai 2013 (PStRÄndG, Art. 1 Nr. 6 b) bereits gegeben war, dass nämlich Operationen nicht mit einer rechtlich vorgegebenen Geschlechtsbinarität begründet werden können. In den Köpfen vieler Menschen bleibt jedoch vorerst die Vorstellung bestehen, wonach Kinder nur dann normal und gesund aufwachsen können, wenn sie als Jungen oder Mädchen durchs Leben gehen. Positive Beispiele von Familien, in denen intergeschlechtliche Kinder und Jugendliche mit unversehrtem Körper aufwachsen, können andere Eltern intergeschlechtlicher Neugeborener empowern. Dennoch könnten Ärzt*innen weiterhin argumentieren, dass eine Genitaloperation die psychologisch gesündere Option sei, wenn Eltern dem gesellschaftlichen Druck nicht gewachsen sind und sich dies auf die Beziehung zu ihrem Kind negativ auswirkt. Daher halte ich ein gesetzliches Verbot medizinisch nicht notwendiger Genitaloperationen an nicht-einwilligungsfähigen Kindern mit Variationen der Geschlechtsmerkmale immer noch für absolut notwendig.
Darüber hinaus wird es darauf ankommen, ob die Bundesregierung weitsichtig genug ist, die standesamtliche Geschlechtsregistrierung generell abzuschaffen. Solange Teile der Gesellschaft Intergeschlechtlichkeit noch als anormal oder als exotisch ansehen, wird es ein Kind mit offengelassenem (oder, falls dies überhaupt rechtlich für Minderjährige vom Gesetzgeber ermöglicht werden würde, mit einem dritten) Geschlechtseintrag nicht leicht haben im sozialen Umfeld, der Kita, der Schule etc. Allerdings gilt dies auch für manch andere Kinder, zum Beispiel behinderte Kinder. Sollte die Geschlechtseintragung generell abgeschafft werden, dann könnten allerdings intergeschlechtliche Kinder, Jugendliche und Erwachsene nicht länger durch vorzulegende Geburtsurkunden, den Reisepass, die Gesundheitskarte etc. unfreiwillig geoutet werden – und auch Trans*-Personen müssten nicht mehr eigens ihren Geschlechtseintrag ändern lassen. Insofern kann der Bundesregierung nur dieser historische Schritt angeraten werden.
Crossposting auf dem verfassungsblog.de, Gunda-Werner-Institut