Im Rahmen der Ausstellung „Mercury Rising – Inter* Hermstory[ies] Now and Then“ im Schwulen Museum Berlin entstand das folgende Interview für die TAZ. OII Germany Co-Vorstände Ev Blaine Matthigack und Ins A Kromminga sprechen mit Noemi Molitor über die Geschichte zu Inter*, Kunst, und Sichtbarkeit.
Zeichnung aus der Serie „autobiography“ von Adeline Berry, 2021
„Es gibt viele Arten, inter* zu sein“
Im Schwulen Museum in Berlin ist erstmals eine Ausstellung über Intergeschlechtlichkeit zu sehen. Ein Gespräch über die Bedeutung des Buchstabens, der im LGBTIQ oft vergessen wird
Interview von Noemi Molitor für die taz, erschienen am 03. November 2021
taz:
LGBTIQ-Themen wurden in den letzten Jahren viel diskutiert – doch das I fällt dabei meist aus dem Blick. Wie kommt das, Ev Blaine Matthigack und Ins A Kromminga?
Ev Blaine Matthigack: Es ist immer noch so, dass die Medizin hauptsächlich die Autorität hat, das Thema Intergeschlechtlichkeit zu verhandeln. Das Thema Inter* hat in den letzten Jahren tatsächlich mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit bekommen, allerdings wird häufig über Inter* gesprochen anstatt mit ihnen.
taz:
Das Schwule Museum in Berlin zeigt zum ersten Mal in seiner Geschichte eine Ausstellung, die dezidiert dem Thema Intergeschlechtlichkeit gewidmet ist und maßgeblich von inter* Personen gestaltet wurde. Was ist das Besondere an dieser Ausstellung?
Matthigack: Die Ausstellung ist ein Statement in die Gesellschaft und möchte Wissen vermitteln. Die Inter*-Community kommt hier selbst zu Wort. Es werden Perspektiven von Menschen gezeigt, die in verschieden Weltregionen Menschenrechtsarbeit machen. Nennen wir es einen aktivistischen Wissens- und Erfahrungsspeicher.
Ins A Kromminga: Uns war es wichtig, eine Verbindungslinie aufzuzeigen mit denen, die vor uns da waren. Intergeschlechtlichkeit ist nichts Neues, es hat sie schon immer gegeben. Nur wie wir als Gesellschaft damit umgehen, hat sich in den letzten 60, 70 Jahren extrem verändert. In westlichen Ländern wurde der Zugriff der Medizin seit den 1950er Jahren so enorm, dass es eigentlich kaum noch Inter* gibt, die durch dieses Raster rutschen und nicht im Laufe ihres Lebens in irgendeiner Weise medikalisiert werden. Es geht also leider immer noch um Grundsatzfragen wie körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung.
Matthigack: In der Ausstellung werden Gewalterfahrungen in Bezug auf Medizin und Rechtsprechung thematisiert, sie werden aber künstlerisch transformiert. Die Ausstellung zeigt dabei auch, dass es eine starke Community gibt, die mittlerweile anfängt, sich in ihrem Inter*-Sein zu feiern.
taz:
Das Begleitheft zur Ausstellung beschreibt Fotografie als ein gewaltvolles Instrument der Medizin. Inter* Körper wurden für einen medizinischen Blick exponiert, den Fotografierten wurde auf solchen Abbildungen sogar häufig ein schwarzer Balken über die Augen gelegt.
Kromminga: Es gab die Frage, ob wir noch mal direkteren Bezug nehmen auf solche historischen Abbildungen, die auch im Schwulen Museum im Archiv vorhanden sind. Da haben wir uns aber ganz klar dagegen entschieden. Auch, weil wir noch heute nicht an der Stelle sind, entpathologisiert zu sein. Wir haben noch nicht die Menschenrechte, die andere Menschen vielleicht erst mal so für sich in Anspruch nehmen können.
Matthigack: Fotografie wurde dann später zu einem Mittel, auf diese Traditionen zu antworten. Eine der ersten Inter*-Aktivist_innen, Mani Bruce Mitchell, hat das Medium zum Beispiel für sich angewendet. Und zwar bereits in den 1990er Jahren, als das Thema überhaupt erst sichtbar wurde und bevor es auf einer Menschenrechtsebene bei den Vereinten Nationen diskutiert wurde. Da hat sie_er sich sehr stark mit der Fotoarbeit „Mani (I am not a monster)“ von Rebecca Swan platziert. Das ist eine ganz klare Ansage.
taz:
Wie würden Sie den Platz von I in LGBTIQ beschreiben?
Kromminga: Der kleinste gemeinsame Nenner war immer, dass wir ähnliche Diskriminierungserfahrungen machen wie Schwule, Lesben, Trans* usw. Zum Beispiel was Pathologisierung angeht und die Normvorstellung, wie Körper zu sein haben. Das ist eng verflochten mit Vorstellungen von Geschlecht und Gender. Diese Binarität, die weiterhin in unserer Gesellschaft vorherrscht, hat sehr stark damit zu tun, wie mit inter* Menschen, mit inter* Kindern umgegangen wird.
taz:
Wir müssten also viel grundsätzlicher über Geschlecht und Gender nachdenken?
Matthigack: Wir können auch beim Personenstandsgesetz noch weiter denken. Bei OII Germany setzen wir uns für die Abschaffung einer Registrierung des Geschlechtes ein.
Kromminga: Diese Vorstellung, dass die körperliche Norm klar männlich und klar weiblich ist und dass sich alle später auch mit dem Geschlecht, das ihnen zugewiesen wurde, identifizieren, wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Inter* fallen da schon auf der körperlichen Ebene raus und werden aufgrund dieser starren Wahrnehmung diskriminiert und in ihren Menschenrechten verletzt.
taz:
Hinzu kommt Unwissen darüber, wie inter* Menschen sich selbst sehen.
Kromminga: Beim Personenstandsgesetz gab es oft diese verkürzte Wahrnehmung, „jetzt gibt es das dritte Geschlecht in Deutschland“. Diese Vorstellung von einem „Dritten Geschlecht“ ist aber eine Versimplifizierung und falsche Darstellung von dem, was Intergeschlechtlichkeit bedeutet. Das betrifft auch „divers“. Nach dem Motto, „dann sind alle Inter* jetzt ‚divers‘“. Im Leben vieler inter* Menschen ist das aber nicht so, viele finden sich da nicht wieder. Es gibt so viele unterschiedliche Arten, inter* zu sein. Natürlich sind nicht alle Inter* automatisch auch LGBTQ. Es gibt aber Inter*, die sich auch als queer definieren, als trans*, lesbisch oder schwul lebend.
taz:
Die Kategorie „cis-gender“ wird oft benutzt, um Menschen zu bezeichnen, deren Genderidentität dem Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Ist das auch eine Kategorie, die wir noch mal überdenken müssten?
Matthigack: Es gibt natürlich auch Inter*, die sich als Mann oder als Frau verstehen oder heterosexuell leben. Der Begriff „cis“ ist aber trotzdem für Inter* in Teilen wirklich nicht hilfreich.
Kromminga: Es gibt ja häufig die Vorstellung, „cis ist erst mal privilegiert“. Inter* erleben das aber oft anders. Wenn eine inter* Person als Mann oder Frau lebt, könnte man sagen, dass diese Person auch Privilegien erlebt, wenn sie sich mit einem der üblichen Geschlechter identifiziert. In der Wahrnehmung des Außen wird das ja auch bestätigt oder unterstützt.
Gleichzeitig bedeutet aber Inter* zu sein in dem Fall, dass man andere Punkte hat, wo man Diskriminierungen erlebt oder verletzt wird, wie z. B. durch medizinische Eingriffe, die nicht notwendig sind, oder bei der Gesundheitsversorgung, in der der eigene inter* Körper an unpassenden Standards gemessen und tatsächliche Bedarfe oft nicht berücksichtigt werden. Das ist also eine wichtige Frage von Intersektionalitäten.
taz:
In Deutschland ist dieses Jahr das „Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ verabschiedet worden.
Matthigack: Das ist ein wichtiges Signal, dass intergeschlechtliche Kinder geschützt werden müssen vor nicht eingewilligten Eingriffen.
Kromminga: Wir haben mehrere Stellungnahmen in diesem Prozess formuliert und hoffen, dass sich diese Sachen zumindest in Deutschland zum Positiven verändern. Aber wir haben da auch weiter große Bedenken, wie zum Beispiel bei der Zusammenstellung der angedachten Kommission, die weiter im klinischen Setting verbleibt und damit Entscheidungsprozesse von vornherein unter einen pathologisierenden Blickwinkel stellt.
taz:
Beim Thema Operationen an Kindern horchen viele auf. Wie geht es eigentlich inter* Teenagern oder Erwachsenen?
Kromminga: Es wird tatsächlich nie wirklich geschaut, was ist denn mit den Leuten los, wenn sie dann einmal 18 oder 19 oder noch älter sind. Ich persönlich mache zum Beispiel seit 21 Jahren Inter*-Aktivismus, und als ich angefangen habe, wurden Leute geboren, denen ich heute als junge Inter*-Aktivist_innen begegne, weil sie die gleichen Verletzungen erlebt haben. Das macht einem schon zu schaffen, so als alte_r Herm.
Matthigack: In der Kindheit gibt es einen entscheidenden Unterschied beim Aufwachsen. Andere Personen haben meist erst mal eine gewisse Zeitspanne, in der sie in einem nicht von außen in Frage gestellten Körper heranwachsen können. Bei inter* Kindern und Teenagern ist das nicht so.
Kromminga: Die Medikalisierung, von der Inter* betroffen sind, hat Auswirkungen auf das ganze Leben. Wenn du dein Leben lang so wahrgenommen wirst und das erlebst, macht das natürlich etwas mit deinem Selbstverständnis, mit deinem Selbstbewusstsein. Es ist ganz schwierig für viele inter* Menschen, sich davon zu befreien und festzustellen, das ist nicht normal, was mir die letzten 20 Jahre passiert ist, und da stimmt was nicht mit dem Außen.
taz:
Lange kamen inter* Figuren nur in Krankenhausserien vor. Quasi eine Bestätigung der Idee, dass Intergeschlechtlichkeit eine Krankheit sei.
Matthigack: Genau. Oder es gibt dieses mythologisierende Bild. In jeder Doku taucht z. B. die hermaphroditische Statue von Gian Lorenzo aus dem Louvre auf.
Kromminga: Repräsentation ist ein entscheidendes Thema. Es gibt zu wenige kulturelle Produktionen, wo Inter* selber zu Wort kommen. In der Literatur tauchen zwar beispielsweise immer mehr inter* Figuren auf, häufig bleiben diese Figuren aber einfach nur Projektionsfläche von endogeschlechtlichen Menschen.