Kennzeichen Divers – eine verpasste Chance für eine offenere und freundlichere Gesellschaft für alle

Am 13. Dezember 2018 hat der deutsche Bundestag ein „Gesetz zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben“ verabschiedet, mit dem nun neben weiblich und männlich sowie dem Offenlassen des Geschlechtseintrages als weitere positive Bezeichnung „divers“ gewählt werden kann.

Grundsätzlich begrüßen wir die Einführung des dritten positiven Eintrags „divers”, ebenso die endlich umgesetzte Änderung in eine „Kann”-Regelung im Personenstandsgesetz.

Nun kann damit der Druck auf Eltern reduziert werden, medizinisch geschlechtsverändernde Maßnahmen an ihrem intergeschlechtlichen Kind vornehmen zu lassen, um es dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuweisen zu können und um so den bisher gezwungenermaßen offen bleibenden Personenstand zu umgehen. Eltern können nun frei wählen, ihr intergeschlechtliches Kind bei der Geburt entweder als männlich oder weiblich zu registrieren, als divers, oder den Geschlechtseintrag offen zu lassen.

Doch da die letzten beiden Optionen nur über ein ärztliches Attest möglich sind, wird das Kind öffentlich als Abweichung von männlich und weiblich gekennzeichnet. Wir fragen uns, wieviele Eltern von dieser Möglichkeit Gebrauch machen werden, da dies nun ein Zwangsouting für ihr Kind auf körperlicher Ebene bedeutet. Wäre die Geschlechtsregistrierung für alle Kinder entfallen, gäbe es dieses Problem eines Outings nicht.

Ebenso wird diese Personenstandsregelung intergeschlechtliche Menschen nicht vor uneingewilligten kosmetischen geschlechtsverändernden medizischen Eingriffen schützen, daher fordern wir nach wie vor dringlich ein klares Verbot dieser Eingriffe!

Leider wurde es versäumt, eine selbstbestimmte Geschlechtsangabe für alle Menschen, einschließlich trans* und nicht-binärer Menschen, zu öffnen, deren Geschlechtsidentität nicht dem weiblichen oder dem männlichen Geschlechtseintrag entspricht.

Denn den Eintrag „divers” soll es für einen medizinisch eng definierten Personenkreis geben, also zum Preis der anhaltenden Pathologisierung intergeschlechtlicher Menschen, die nun mittels ärztlicher Attests Angaben zu ihren Körperdetails und vergangenen Widerfahrnissen medizinischer Misshandlungen vorweisen oder sich erneuten medizinischen Begutachtungen unterziehen müssen. Dabei bleibt auch die dringliche Frage noch offen, wie der Schutz solch höchstpersönlicher Daten geregelt ist.

Das Gesetz erkennt zumindest an, dass Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen mit der Medizin oftmals traumatisch gewesen sein können und erneute Untersuchungen deshalb unzumutbar wären. Auch die Tatsache, dass medizinische Unterlagen vergangener Eingriffe und Diagnosen oftmals nicht (mehr) existieren, und körperliche Variationen der Geschlechtsmerkmale aufgrund der medizinischen Eingriffe häufig nicht mehr nachzuweisen sind, werden berücksichtigt. In diesen Fällen soll die alternative Möglichkeit einer Versicherung an Eides statt genutzt werden können, doch birgt diese so schwerwiegende Rechtsrisiken, die in Folge Inter*Menschen kriminalisieren und mit Freiheitsstrafen bedrohen können, dass nur davon abzuraten ist, diese Möglichkeit in Anspruch zu nehmen. Eine solche gesetzliche Regelung wird daher viele erwachsene Inter* weiterhin daran hindern, einen dritten oder anderen Personenstand für sich zu wählen, der zu ihnen passt.

Die Alternative „Versicherung an Eides statt” wirft Fragen auf: Die strafrechtlichen Folgen einer angeblich falschen Versicherung können Freiheits- bzw. Geldstrafe sein. Wer könnte diese Versicherung überhaupt in Frage stellen, anzweifeln oder schlimmer noch, einfach behaupten das diese „unwahr” sei? Welche Folgen hätte eine solche Verdächtigung durch Andere? Dabei sollte festgehalten werden: Die falsche Verdächtigung stellt ebenfalls einen Tatbestand des deutschen Strafrechts dar.

Wie Medizin selbst sagt, sind viele intergeschlechtliche Merkmale nicht (mehr) nachweisbar oder ihr Ursprung medizinisch weiterhin unbekannt. Darüber hinaus variiert innerhalb der Medizin das, was unter der Definition der „Variante der Geschlechtsentwicklung“ gefasst wird und was nicht. Zählt also doch nur der medizinisch-pathologisierende Beweis, und damit die Willkür der medizinischen Klassifikation einer „Variante der Geschlechtsentwicklung“? Wie lässt sich sonst beweisen, was die „Wahrheit” ist?

Was bedeutet es für eine intergeschlechtliche Person, die nach wohlmöglich jahrzehntelangen schädlichen Praktiken und Fehlbehandlungen durch die Medizin nun auch noch mit einer strafrechtlichen Untersuchung, Verfolgung und wohlmöglich einer Freiheitsstrafe zu rechnen hat?

 

Wir als OII Germany sprechen in unserer Menschenrechtsarbeit darüber, dass Menschen mit Variationen der geschlechtlichen Merkmale geboren werden. Mit diesem Sprachgebrauch schließen wir uns an die internationalen Menschenrechtsdiskurse der Vereinten Nationen und der globalen Inter*Menschenrechtsbewegung an, mit denen wir seit vielen Jahren aufs Engste zusammenarbeiten.*  Diese Formulierung beinhaltet alle, deren angeborenen körpergeschlechtlichen Merkmale als „abweichend” von den als „männlich” und „weiblich” bezeichneten Körpernormen eingestuft werden und dadurch Folter, Misshandlung und andere schädliche Praktiken durch Medizin und Gesellschaft erleiden und stark diskriminiert werden.

Die medizinische Praxis der vergangenen nun fast 70 Jahre hat erst zu diesen massiven Menschenrechtsverletzungen geführt. Wie kann es sein, dass sich eine vulnerable Gruppe wieder in den Kontext begeben muss, in dem sie Schäden erlitten hat, die sie lebenslang begleiten und in dem sie weiterhin diskriminiert und verletzt werden kann? Nun soll genau diese Instanz wieder bestimmen, ob und wer legitimiert und berechtigt ist in Deutschland einen dritten „positiven” Geschlechtseintrag wählen zu dürfen?

Der Weg zu einem gleichgestellten und positiven Geschlechtseintrag sieht anders aus!

Eine Abschaffung des Geschlechtseintrags bei Geburt, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von Oktober 2017 als Möglichkeit aufgezeigt hat, hätte einen solchen pathologisierenden und menschenrechtsverletzenden Sonderweg unnötig gemacht, Rechtsunsicherheit vermieden, und allen Menschen geschlechtliche Selbstbestimmung ermöglicht. Leider wurde diese Chance in Deutschland vertan!

 

Wir fordern weiterhin:

•  Keinen Geschlechtseintrag bei Geburt oder Geschlechtsregistrierung gänzlich abschaffen!

•  Nur selbstbestimmte Geschlechtsregistrierung!

•  Entschädigungen für vergangene Menschenrechtsverletzungen!

•  Verbot uneingewilligter oder nicht vollständig informierter geschlechtsverändernder kosmetischer medizinischer Eingriffe, insbesondere an Kindern!

•  Unser Geschlecht gehört uns – für die Akzeptanz und Gleichstellung aller Geschlechter!

 

 

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* https://oiigermany.org/oeffentliche-erklaerung-des-dritten-internationalen-intersex-forum/

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