Medizinische Eingriffe an Inter* und deren Folgen: Fakten und Erfahrungen

In enger Zusammenarbeit mit dem Andidiskriminierungs- & Empowerment für Inter*-Projekt bei TransInterQueer e. V. ist die aktuelle “Medizinische Eingriffe an Inter* und deren Folgen: Fakten und Erfahrungen” entstanden. Die Broschüre richtet sich in erster Linie an Menschen, die mehr über die die Lebenssituation intergeschlechtlicher Menschen und insbesondere über die Folgen medizinischer Eingriffe an Inter* erfahren möchten. Dabei wird es den intergeschlechtlichen Menschen überlassen, das Widerfahrene mit eigenen Worten zu beschreiben.

Einführung

Intergeschlechtlichkeit ist in den letzten Jahren zum Thema geworden. Auch Entscheidungsträger_innen, Fachpersonal und die breitere Öffentlichkeit möchten mehr über die Lebenssituation intergeschlechtlicher Menschen erfahren. Im Zentrum steht dabei häufig die Frage nach den medizinischen Behandlungen, einschließlich der Frage nach kosmetischen Eingriffen, die nicht lebensrettend sind oder medizinische Indikationen im engeren Sinn darstellen, sondern die – vermutete – bessere soziale Eingliederung der intergeschlechtlichen Person zum Ziel haben.

Mit dieser Frage sind auch Angehörige konfrontiert, denn bei Eingriffen an Kleinstkindern, Kindern und nicht-einwilligungsfähigen Jugendlichen entscheiden die Eltern der intergeschlechtlichen Person stellvertretend für ihr intergeschlechtliches Kind. Forschung hat gezeigt, dass Eltern bei medizinischer Beratung dreimal so häufig in geschlechtsverändernde Eingriffe einwilligen wie Eltern, die eine nicht-pathologisierende Beratung erhalten.i Umso wichtiger ist es daher, dass Eltern verstehen, in was sie einwilligen und was für Folgen bestimmte medizinische Eingriffe für den zukünftigen erwachsenen intergeschlechtlichen Menschen haben können.

Menschen, die mit Variationen der Geschlechtsmerkmale geboren werden sind auch heute noch damit konfrontiert, dass Medizin und Gesellschaft ihre Geschlechtsentwicklung als Störung betrachten. Diese Perspektive führte und führt bis heute zu einer fast flächendeckenden Behandlungspraxis, die intergeschlechtliche Menschen pathologisiert und ohne ihre persönliche und vollständig aufgeklärte Einwilligung schwerwiegende und irreversible medizinische, medikamentöse und chirurgische geschlechtsverändernde Eingriffe an ihnen durchführt.

Es gibt eine Vielzahl von Variationen der Geschlechtsmerkmale. Im internationalen Katalog der Krankheiten, dem „International Classification of Diseases“ (ICD 10) sind hierzu über 50 Diagnoseschlüssel aufgeführt. Bewusst werden muss man sich, dass diese Diagnosen, etwa unter dem Label „Fehlbildung“, gesunde Variationen von Körperlichkeit, die nicht von sich aus Krankheitswert haben, zu einem Krankheitsbild machen.

Zugleich führt die Zergliederung diagnostischer Kategorien und deren statistische Seltenheit zu einer Vereinzelung der Person, die scheinbar allein mit dieser Diagnose existiert.  Im Praxisumgang mit Patient_innen wurde neben dem Aspekt der Seltenheit auch noch der der Stigmatisierung und Tabuisierung vermittelt: Da es sich ja um ein Abweichen von der Norm handelte wurde den Eltern intergeschlechtlicher Menschen und diesen selbst nahegelegt, nicht darüber zu sprechen, da sie sowieso „keine andere Person wie Sie finden“ und darüber zu sprechen „Ihr soziales Aus wäre“. Wie aus einem deutschen Arztbrief bei einer Überweisung an einen Kollegen hervorgeht, wurden auch bei erwachsenen intergeschlechtlichen Menschen Informationen bewusst zurückgehalten: „Bitte der Patientin nichts von dem tatsächlichen Befund berichten um eine psychische Belastung zu vermeiden”. Solch eine Verschleierung und schwerwiegende Unterlassung von Informationsvermittlung, die bis in jüngste Zeit häufig noch durch das „Verschwinden” von medizinischen Unterlagen durch diverse Umstände (Verjährung, ein vorgeblicher „Wasserschaden“ oder „Verlust“ beim Umzug etc.) verschärft wurden, führten und führen zu Situationen, in der intergeschlechtliche Menschen oft nicht mehr nachvollziehen können, was genau ihnen widerfahren ist und, vor allem, welche körperlichen Merkmale und Organe entfernt oder verändert wurden, mit unvorhersehbaren kurz- und langfristigen Auswirkungen für die Gesundheit. Heute erwachsene intergeschlechtliche Menschen leben weiterhin mit den Folgen dieser Behandlungspraxis und der Zerstörung ihrer sexuellen Sensibilität und ihrer körperlichen Integrität.

Positiv anmerken kann man, dass sich seit dem Chicago Consensus Statement von 2006 eine Trendwende vom Verschweigen der Diagnose hin zur Enttabuisierung der Diagnose abzeichnet, die auch von der 2015 veröffentlichten Stellungnahme der Bundesärztekammer unterstützt wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass intergeschlechtliche Menschen und ihre Angehörigen heute tatsächlich umfassende Informationen über die Risiken, den tatsächlichen Nutzen und mögliche Folgeschäden der geschlechtsverändernden Eingriffe, sowie Fakten zum Leben ohne diese Eingriffe erhalten, wie sie für eine voll informierte Entscheidung nötig sind. Auch wenn im Zusammenhang mit einigen wenigen Diagnosen ein Aufschieben des Eingriffs empfohlen wird, so wird das grundlegende Recht der intergeschlechtlichen Person, alleine über ihren Körper zu entscheiden, immer noch in Frage gestellt.

Das aktive Zurückhalten und Verschleiern grundlegender Informationen hält den Menschen davon ab, mehr über sich zu erfahren oder sich mit Anderen über gemeinsame Erfahrungen auszutauschen. So fanden sich Menschen mit angeborenen Variationen der Geschlechtsmerkmale erst zu Gruppen von Menschen zusammen, nachdem sie ihre Widerfahrnisse mit anderen teilen konnten. Dabei half die Anonymität des Internets Dinge zu schildern, die im Alltag unter dem Deckmantel des Tabus versteckt blieben. Bei Recherchen zu der eigenen Geschichte führen oft bestimmte Suchbegriffe auf die richtige Fährte: Diagnosebegriffe wie z.B. Klinefelter-, Turner-, Meyer-Rokitansky-Küsterhauser,- Swyer-, Adrenogenitales- Syndrom (AGS), Androgenresistenz (AIS), 5-Alpha-Reduktase-Mangel, 17-Beta-Hydroxy­steroid- Dehydrogenase-Mangel, oder Beschreibungen von Aspekten des Erlebten wie Dilatation bzw. Bougieren (das Dehnen der Vagina mit einem Gegenstand), Gonadektomien (chirurgische Entfernung der Keimdrüsen), wiederholte Operationen im Kindesalter, Narben im Genitalbereich, oder auch Beschreibungen subtilerer Differenzerfahrungen.

Mit der Änderung der Nomenklatur in 2006, die den Begriff Intersexualität durch „Störungen der Geschlechtsentwicklung (DSD)” abgelöst hat, wurde die Pathologisierung von Variationen der Geschlechtsmerkmale einerseits ausgeweitet und zugleich partiell begrifflich neu gefasst. Andererseits umfasst der Begriff Intersexualität in der Diagnostik nun nur noch sehr wenige Variationen der Geschlechtsentwicklung. Da diese statistisch jedoch seltener sind als andere und bei ihnen Zurückhaltung bei operativen Eingriffen empfohlen wird, führt dies zu einem scheinbaren Rückgang von geschlechtsverändernden Eingriffen.

Die aktuelle Studie „Zur Aktualität kosmetischer Operationen ‚uneindeutiger‘ Genitalien im Kindesalter” von Ulrike Klöppel zeigt, dass die kosmetischen Genitaloperationen an Kindern in dem Zeitraum der Studie von 2005-2014 nicht zurückgegangen sind, auch wenn ein Rückgang der im engen Sinn als „Intersexualität“ gefassten Diagnosen zu verzeichnen ist. An der Praxis geschlechtsverändernder operativer und anderer Eingriffe ändert dies, wie die Zahlen der Studie zeigen, nichts:  „Früher wurde das Vorliegen von Intersexualität als Begründung für Operationen benutzt, heute wird das Nicht-Vorliegen von Intersexualität als Legitimation für Operationen benutzt. Entsprechend u.a. den ärztlichen Bedürfnissen erfolgt die Diagnosestellung”,  so ein Zitat einer befragten Ärzt_in.

Wir haben die Ergebnisse der Studie zum Anlass genommen, die häufigsten nach wie vor stattfindenden Eingriffe mit persönlichen und öffentlich zugänglichen Erfahrungsberichten von Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale zu versehen, die jenen von in Berlin lebenden Individuen in vieler Hinsicht entsprechen, um die Auswirkungen zu illustrieren, die gerade diese operativen Eingriffe an den Genitalien auf ihr Leben haben. Wir haben bewusst darauf verzichtet, medizinische und diagnostische Umschreibungen zu reproduzieren um bestimmte Eingriffe und Diagnosen zu erklären und überlassen es stattdessen den intergeschlechtlichen Menschen, das Widerfahrene mit eigenen Worten zu beschreiben.

i Streuli JC, Vayena E, Cavicchia‐Balmer Y, and Huber J. Shaping parents: Impact of contrasting professional counseling on parents‘ decision making for children with disorders of sex development. J Sex Med 2013;10:1953–1960.

:: update Mai 2020 ::

Begrifflichkeiten:

Uns ist eine präzise und menschenrechtskonforme und entpathologisierende Sprechweise zu Inter* wichtig, weil es nach wie vor zu wenig intergeschlechtliche Menschen gibt, die sich selber zu ihren Themen äußern. Inzwischen gibt es eine größere Öffentlichkeit, die die Existenz von Inter* mitbekommen hat, doch fehlt es häufig an einem sprachlich sensiblen Umgang.

„Intergeschlechtlichkeit“ ist die korrekte deutsche Übersetzung des englischen Begriffs „Intersex“, der formals als medizinische Definition und seit 2005 weltweit von DSD (Störung der Geschlechtsentwicklung) abgelöst wurde. Der Begriff beschreibt ein angeborenes somatisches Sosein, ein körperliches, physisches Sosein. Im Englischen wurde auch der Begriff „intersexuals“ benutzt, der aber, wie seine deutsche Übersetzung „Intersexuelle“, einen Zusammenhang mit Sexualität herstellt. Doch bei Inter* geht es in erster Linie wie oben geschrieben um das angeborene körperliche, somatische Vorhandensein von Variationen der Geschlechtsmerkmale. Aus diesem Grund verwenden wir nicht den Begriff „Intersexuelle“ oder „intersexuals“. Ebenso lehnen wir es ab, über inter*Menschen als Menschen mit einer „Intersexualität“ oder mit „Intergeschlechtlichkeit“ zu sprechen, das wäre vergleichbar mit der Sprechweise, bei Männern und Frauen von Menschen mit einer „Männlichkeit“ und mit „Weiblichkeit“ zu verwenden. 

„Inter*“ ist ein Sammelbegriff und beinhaltet alle Selbstbezeichnungen von intergeschlechtlichen Menschen (u.a. als Zwitter, Hermaphrodit, Intersex, Herm), es können aber auch medizinische Bezeichnungen sein, die Personen zunächst bekommen. Viele identifizieren sich als weiblich oder männlich, manche inter*Personen können auch eine intergeschlechtliche Identität haben, die der Erfahrung entspringt, in/mit einem intergeschlechtlichen Körper zu leben. Inter*Menschen können, wie alle Menschen, eine männliche, weibliche, trans oder nichtbinäre Identität haben. 

Unsere Definition von Inter* ist gleichzusetzen mit intergeschlechtlich und dem englischen Begriff „intersex“, oder der Umschreibung „Menschen, die mit Variationen der Geschlechtsmerkmale geboren wurden“ bzw. im Englischen „People born with variations of sex characteristics“. Wir sprechen hier explizit auch nicht von Varianten: „Varianten“ ist ein Begriff, der von einem Normstandard ausgeht und die Variante als Abweichung (ab)wertet. Daher sprechen wir von Variationen, die gleichwertig mit allen anderen Ausprägungen in Erscheinung treten können. Unsere Definitionen, wie unser Selbstverständnis, basiert auf der internationalen Inter*-Menschenrechtsbewegung und der Malta-Deklaration von 2013, die von über 34 Aktivist_innen und Repräsentant_innen von 30 Intersex-Organisationen aus allen Weltregionen formuliert wurde.

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