“Variante der Geschlechtsentwicklung”: Ein Keil im Kampf für Selbstbestimmung und Menschenrechte von Inter* (und Trans*)

Mit dem seit Januar 2019 eingeführten Personenstand “divers” soll intergeschlechtlichen Menschen, die sich nicht mit dem weiblichen, männlichen oder offenen Personenstand identifizieren, die Möglichkeit eines positiven Geschlechtseintrages gegeben werden.

Mit der jetzigen Personenstandsregelung zu dem Eintrag “divers” wurde grundsätzlich die Chance vertan, einen selbstbestimmten Personenstand für alle Menschen zu ermöglichen, ohne eine spezifische Personengruppe weiter zu pathologisieren mittels eines ärztlichen Attests als “Variante der Geschlechtsentwicklung” (“VG”) – siehe auch unsere Stellungnahme zum neuen Gesetz hier: https://oiigermany.org/kennzeichen-divers/.

Die aktuelle mediale Debatte setzt sich mit der Frage auseinander, wer ein ärztliches Attest über eine “VG” bekommt, jedoch nicht mit der übergeordneten Problematik: Der (Re-)Pathologisierung und der Akzeptanz von medizinischer Authorität über Inter*.

Es besteht kein Zweifel daran, dass das TSG und die Forderung nach psychologischen Gutachten für eine Vornamens- oder Personenstandsänderung eine Menschenrechtsverletzung darstellt. Es ist daher auch völlig verständlich, dass  nicht-intergeschlechtliche Menschen neue Lösungen für sich finden möchten.

Wenn nun nicht-Inter*menschen eine “VG” bescheinigt bekommen, übrigens eine beschönigte Umschreibung der “Störung der Geschlechtsentwicklung” – kurz “DSD”, die im medizinischen Kontext seit dem Chicagoer Consensus Statement 2006 Inter* bezeichnet, bedeutet dies eine Repathologisierung durch ein medizinisches Attest, und reiht sich damit ein in die “Störungen der Geschlechtsentwicklung”, mit allen Konsequenzen, die daraus entstehen können.

Mit der Inanspruchnahme eines Attests über eine “VG”, wird auch die Definitionshoheit der Medizin weiter anerkannt und reproduziert, ihre Authorität in der Frage nach Geschlecht und Identität übernommen und willkommen geheißen.

Bundesvereinigung Trans* in der Siegessäule:  “Die Ärzt*innen haben eine Fürsorgepflicht und werden sicher keine willkürlichen Atteste ausstellen für Patient*innen, die sie nicht kennen. Für Patient*innen, die in ihrer Praxis einen längeren Zeitraum mit ihren Diagnosen bekannt sind, sollte es in der Regel aber kein Problem darstellen, von behandelnden Haus- oder Fachärzt*innen, oder auch von Therapeut*innen eine Bescheinigung zu bekommen.”
https://www.siegessaeule.de/no_cache/newscomments/article/4248-unkomplizierte-personenstandsaenderung-fuer-trans-personen-moeglich.html

TransInterQueer e.V. auf Facebook dazu: “Wenn ein ärztliches Attest vorliege, solle es kein Problem sein. Außer es sei ein Betrug. Dem Bürgerreferat wurde im Telefonat erklärt, es sei natürlich kein Betrug, denn trans* sei auch eine Variante der Geschlechtsentwicklung. Es handelt sich um einen vorläufigen Informationsstand.”
https://www.facebook.com/triqberlin/posts/2106289622811985

Kritik an dem bevormundenden Gesetz, dem Gatekeeping der Medizin und der Medikalisierung durch die ausgestellten Attests über eine “VG” fehlt in der jetzigen Diskussion, ebenso die differenzierte Auseinandersetzung, was dies in der Konsequenz für Inter* bedeutet.

Die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (DGTI) zB. fordert in einem offenen Brief sogar ausdrücklich dazu auf, dass Medizin ihren Entscheidungsfreiraum über Trans* und Inter*menschen auszuschöpfen habe – im Umkehrschluss heißt dies aber auch, dass die Forderungen von menschenrechtsbasierten Inter*Organisationen nach Depathologisierung und Selbstbestimmung, insbesondere einem OP-Verbot von uneingewilligten kosmetischen Operationen und Behandlungen an Inter* personen, über Bord geworfen werden.
https://www.dgti.org/images/pdf/Information_45b_PStG.pdf

Beide Gruppen, Inter* und Trans*, erfahren Diskriminerungen auf struktureller Ebene durch ein medizinisches Gatekeeping. Werden die Unterschiede in den jeweiligen Lebensrealitäten jedoch nicht mitgedacht,  bedeuten solche Aussagen aus unserer Perspektive eine Entsolidarisierung mit Anliegen von Inter* und den jahrzehntelangen Kämpfen von Inter* für Depathologisierung und Menschenrechte.

Wir fragen uns, ob Teile der deutschen Trans*Community, die noch im letzten Jahr die Depathologisierung von Trans* in der neuen Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) gefeiert haben, sich nun zurückkatapultieren in Pathologisierungen. Denn für Inter* bedeutet die aktualisierte Fassung der ICD-11 nur eine Verschlechterung und weitere Medikalisierung, dadurch dass die “DSD”-Nomenklatur nun offiziell Eingang erhält.
https://oiieurope.org/de/who-publishes-icd-11-and-no-end-in-sight-for-pathologisation-of-intersex-people/

Wir fordern weiterhin:

  •  Keinen Geschlechtseintrag bei Geburt oder Geschlechtsregistrierung gänzlich abschaffen!
  •  Nur selbstbestimmte Geschlechtsregistrierung!
  •  Entschädigungen für vergangene Menschenrechtsverletzungen!
  •  Verbot uneingewilligter oder nicht vollständig informierter geschlechtsverändernder kosmetischer medizinischer Eingriffe, insbesondere an Kindern!
  •  Unser Geschlecht gehört uns – für die Akzeptanz und Gleichstellung aller Geschlechter!

Weiterführende Informationen:

Erst vor einigen Wochen hat das Europäische Parlament mit seiner Resolution zu den Rechten intergeschlechtlicher Menschen noch einmal deutlich die Entpathologisierung und den Schutz von Inter* in den europäischen Staaten gefordert http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA-2019-0128+0+DOC+PDF+V0//DE

Diese nimmt in Teilen die internationalen Forderungen der intergeschlechtliche auf, wie sie 2013 in der Malta-Deklaration formuliert wurden: https://oiigermany.org/oeffentliche-erklaerung-des-dritten-internationalen-intersex-forum/

Ebenso siehe die 2017 erweiterten Yogyakarta-Prinzipien plus 10: http://yogyakartaprinciples.org/wp-content/uploads/2017/11/A5_yogyakartaWEB-2.pdf

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